10.11.2020 | Kartellrecht
Effizienz vs. Transparenz
Digitale Handelsplattformen sind einerseits (zwar) grundsätzlich geeignet, den Handel effizienter zu gestalten. Sie können die Reichweite bzw. Auffindbarkeit der Anbieter steigern und, damit einhergehend, die Auswahlmöglichkeiten der Abnehmer erweitern. Außerdem ermöglichen sie eine schnellere und unkompliziertere Abwicklung von Geschäften, vereinfachen das Ordermanagement und machen die Marktteilnehmer unabhängig von Öffnungs- bzw. Geschäftszeiten. Im besten Fall führt die Effizienzsteigerung zu einer Qualitätssteigerung und/oder Preissenkung.
Andererseits können von digitalen Plattformen auch wettbewerbsschädliche Wirkungen ausgehen, zumal mit dem Betrieb einer Plattform eine gesteigerte Transparenz einhergeht, die einen (unzulässigen) Informationsaustausch über wettbewerbsrelevante Parameter und Absprachen zwischen Wettbewerbern erleichtern oder sogar entbehrlich machen kann, insbesondere wenn Rückschlüsse auf das künftige Preissetzungsverhalten möglich sind. Dies gilt sowohl im Hinblick auf das Verhältnis der auf der Plattform vertretenen Anbieter untereinander, als auch auf das Verhältnis der Anbieter zum Betreiber (oder mit diesem verbundenen Unternehmen), sofern letzterer auf demselben Markt als Anbieter tätig, d.h. (zugleich) Wettbewerber seiner Plattformnutzer ist.
Grundsätzlich erforderliche Maßnahmen
Vor diesem Hintergrund müssen bestimmte Vorkehrungen getroffen, damit der Betrieb einer digitalen Handelsplattform nicht gegen das Kartellverbot verstößt. Aus der jüngeren Fallpraxis des Bundeskartellamtes ergeben sich diesbezüglich einige Maßnahmen, die es grundsätzlich zu beachten gilt (vgl. Bundeskartellamt, Pressemitteilungen vom 14.05.2020 – "OLF" (Mineralölvertrieb), 28.02.2020 – "XOM Metals" (Stahlhandel) und 5.2.2020 - "Unamera" (Agrarprodukte)).
- Chinese Walls: Es muss sichergestellt werden, das die Anbieter keinen Zugriff auf die Daten ihrer Wettbewerber haben, d.h. jeweils nur die Daten ihrer jeweiligen Kunden einsehen können. Art und Umfang des Informationsaustauschs müssen auf das notwendige Minimum beschränkt werden. Es darf zu keinem Übermaß an Transparenz kommen. So muss bspw. verhindert werden, dass sich die Anbieter umfassend und differenziert über die Angebote ihrer Wettbewerber informieren können.
- Need-to-know-Prinzip: Jeder Anbieter und Nutzer der Plattform darf jeweils nur Zugriff auf diejenigen Informationen haben, die aus seiner Perspektive für einen Geschäftsabschluss zwingend erforderlich sind.
- Registrierung / Identifikation: Anbieter und Kunden müssen sich eindeutig registrieren (z. B. mittels ihrer Steueridentifikationsnummer) und ein Nutzerkonto einrichten. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass Wettbewerber Fake-Accounts anlegen, um (als vermeintliche Kunden getarnt) wettbewerblich relevante Daten ihrer Wettbewerber zu erlangen. Kunden dürfen erst nach Registrierung (und Login) weitergehende Informationen auf der Plattform einsehen können.
- Anonymisierung: Die Identität des Anbieters, Angebotspreise, Mengenangaben und örtliche Verfügbarkeit sollen zunächst nur anonymisiert angezeigt werden. Erst im letzten Schritt vor dem Vertragsschluss sollen diese Informationen offengelegt werden. Darüber hinaus sollten Maßnahmen ergriffen werden, die das Unterlaufen der bezweckten Wirkung der Anonymisierung mittels automatisierter Datensammlung (durch Softwareprogramme / Bots) verhindern.
- Aggregation: Falls Marktstatistiken auf der Plattform veröffentlicht werden, müssen diese aggregiert sein: Es darf also nur ein Durchschnittspreis angezeigt werden, welcher anhand der Angebotspreise von mindestens fünf unabhängigen Unternehmen ermittelt worden ist.
Besondere Vorkehrungen, sofern der Betreiber zugleich als Anbieter auf der Plattform tätig ist
Falls der Betreiber der Plattform (oder mit diesem verbundene Unternehmen) auf demselben Markt wie die auf der Plattform vertretenen Anbieter tätig ist, müssen zusätzliche Vorkehrungen getroffen werden, um sicherzustellen, dass der Betreiber (und/oder verbundene Unternehmen) keinen Zugriff auf wettbewerbsrelevante Daten der (anderen) Anbieter erlangen kann.
Hierzu muss der Betrieb der Plattform
- personell,
- organisatorisch,
- informatorisch und
- (IT-)technisch
von den anderen Gesellschaften bzw. Geschäftsbereichen des Betreibers der Plattform (bzw. verbundener Unternehmen) getrennt werden. Es müssen also zusätzliche Chinese Walls errichtet werden.
Darüber hinaus müssen die nach GmbH-Gesetz grundsätzlich bestehenden Auskunfts- und Einsichtsrechte der Gesellschafter des Betreibers erforderlichenfalls eingeschränkt bzw. ausgeschlossen werden, zumal diese andernfalls Zugriff auf die auf der Plattform hinterlegten Informationen erlangen könnten.
Handlungsempfehlung: Kartellbehördliches (informelles) "Vorsitzendenschreiben" oder Beantragung eines (förmlichen) "Comfort Letter"
Bei der Implementierung einer digitalen Handelsplattform sollten zumindest die vorstehend genannten Grundregeln eingehalten werden, um das Risiko eines Kartellverstoßes zu reduzieren.
Allerdings resultiert hieraus (noch) keine absolute Rechtssicherheit. Vielmehr muss jede digitale Handelsplattform – genau wie jede sonstige Kooperation mit Wettbewerbern – anhand der einschlägigen kartellrechtlichen Bestimmungen (etwa der sog. Horizontal-Leitlinien der EU-Kommission) im Einzelfall im Hinblick auf die wettbewerblichen Auswirkungen auf den betroffenen Markt bewertet werden. Für die Durchführung dieser Prüfung sind grundsätzlich der Betreiber und die beteiligten Unternehmen verantwortlich (sog. Selbstveranlagung).
Wenngleich in diesem Zusammenhang keine Anmeldepflicht besteht (wie bei der Fusionskontrolle), ist darüber hinaus zu empfehlen, vor der Inbetriebnahme eine Abstimmung mit dem Bundeskartellamt vorzunehmen. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Vorgehensweisen möglich:
- Zum einen kommt in Betracht, von der Möglichkeit eines sog. Vorsitzendenschreibens Gebrauch zu machen. Hierbei kann die Kartellbehörde - unter Verzicht auf eine förmliche Entscheidung - informell mitteilen, dass sie im Rahmen ihres Aufgreifermessens von der vertieften Prüfung eines Sachverhalts absieht. Dadurch kann der im Falle einer förmlichen Entscheidung erhöhte Ermittlungsbedarf vermieden und der Vorgang schneller zum Abschluss gebracht werden. Das Bundeskartellamt hat hiervon in jüngerer Zeit verstärkt Gebrauch gemacht und eine Vielzahl von Kooperationsvorhaben, insbesondere aus dem Digitalbereich, mit einer informellen Einschätzung unterstützt. Die bisher nur in der Anwendungspraxis des Bundeskartellamtes bestehende Möglichkeit des informellen Vorsitzendenschreibens soll im Zuge der bevorstehenden 10. GWB-Novelle gesetzlich verankert werden.
- Zum anderen kommt in Betracht, eine förmliche Entscheidung ("Comfort Letter") des Bundeskartellamtes nach § 32 c Abs. 1 GWB zu beantragen. Diesbezüglich soll mit der 10. GWB-Novelle ein gesetzlicher Anspruch auf eine solche Entscheidung eingeführt werden. Dieser setzt voraus, dass die Unternehmen im Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit Wettbewerbern ein "erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse" an einer solchen Entscheidung haben. Dieses besondere Interesse könnte insbesondere im Bereich der Digitalwirtschaft, bspw. bei der Realisierung von Netzwerkeffekten, der Zusammenführung und gemeinsamen Nutzung von Daten oder dem Aufbau von Plattformen im Bereich der Industrie 4.0, sowie bei komplexen neuen Rechtsfragen und außergewöhnlich hohem Investitionsvolumen und -aufwand anzunehmen sein. Das Bundeskartellamt wird dann innerhalb einer bestimmten Frist entweder die beantragte förmliche Entscheidung treffen oder mitteilen, dass die Voraussetzungen des Anspruchs auf einen Comfort Letter nicht vorliegen oder Bedenken gegen das Vorhaben bestehen, die nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeräumt werden können, um eine Entscheidung zu treffen. In letztgenanntem Fall müssten dann Anpassungen vorgenommen werden, um den kartellrechtskonformen Betrieb der Handelsplattform sicherzustellen; diesen Prozess könnte das Bundeskartellamt informell begleiten.
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