Das BAG und die Massenentlassungsanzeige – Kurswechsel zu erwarten?

Dr. Lisa-Katharina Holst

Dr. Lisa-Katharina Holst

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) führen Fehler im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige regelmäßig zur Unwirksamkeit der darauf basierenden Kündigungen. Der 6. Senat des BAG hat diese Unwirksamkeitsfolge fehlerhafter Anzeigen von Massenentlassungen jüngst in Frage gestellt. Eine etwaige Rechtsprechungsänderung hängt nun von der Beurteilung durch den EuGH ab.

Das BAG und die Massenentlassungsanzeige – Kurswechsel zu erwarten?
Das BAG und die Massenentlassungsanzeige – Kurswechsel zu erwarten?

02.04.2024 | Arbeitsrecht

Ausgangslage

Eine Massenentlassungsanzeige ist bei der Agentur für Arbeit zu erstatten, wenn im Rahmen von Restrukturierungen oder Personalabbauten ein nicht unerheblicher, über den Schwellenwerten des § 17 Abs. 1 KSchG liegender Teil der Belegschaft entlassen wird. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG können auch rein formale Fehler bei einer Massenentlassungsanzeige regelmäßig zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Die Angabe eines falschen Tätigkeitsschlüssels, die Erstattung der Anzeige bei einer unzuständigen Agentur für Arbeit oder die nicht ordnungsgemäße Beteiligung des Betriebsrats sind dem einen oder anderen Arbeitgeber in der Vergangenheit bereits zum Verhängnis geworden. Die Massenentlassungsanzeige stellt damit für Unternehmer ein nicht zu unterschätzendes Risiko dar.

Der Beschluss des 6. Senats

Der 6. Senat des BAG hat diese Unwirksamkeitsfolge nun grundlegend in Frage gestellt (Beschluss vom 14.12.2023, Az. 6 AZR 157/22). Nach der Auffassung des 6. Senats verfolge die Pflicht zur Anzeige von Massenentlassungen in erster Linie arbeitsmarktpolitische Zwecke und diene dazu, die Agentur für Arbeit möglichst rechtzeitig über einen außergewöhnlich hohen Anfall von Arbeitslosmeldungen zu informieren. Die zugrundeliegende europäische Richtlinie gewähre daher keinen Individualschutz. Lediglich ein Verstoß gegen das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG, nicht aber ein Formfehler bei der Anzeige soll demnach die Rechtsfolge der Unwirksamkeit der Kündigung nach sich ziehen können. Ausschließlich im Hinblick auf das Konsultationsverfahren sei eine Vergleichbarkeit mit dem Verstoß gegen die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG gegeben und damit ein Gleichlauf auf Rechtsfolgenseite beider Beteiligungsverfahren geboten.

Da ein Senat des BAG nicht ohne Weiteres in einer bestimmten Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats abweichen kann, hat der 6. Senat seine Rechtsauffassung zunächst dem vornehmlich für Kündigungsstreitigkeiten zuständigen 2. Senat in seinem Anfragebeschluss vom 14. Dezember 2023 dargelegt. Der 2. Senat des BAG legte die Rechtsfrage aufgrund der europarechtlichen Relevanz sodann dem EuGH zur Vorabentscheidung vor (Beschluss vom 01.02.2024, Az. 2 AS 22/23).

Ausblick und Folgen einer Rechtsprechungsänderung

Sollte der EuGH sich der Rechtsauffassung des 6. Senats anschließen und Fehler im Rahmen der Massenentlassungsanzeige nicht mehr als Unwirksamkeitsgrund einer Kündigung anerkennen, hätte dies weitreichende Folgen für die Praxis. Arbeitgeber könnten insofern aufatmen, als die versehentliche fehlerhafte Angabe zu Arbeitnehmerdaten in dem Formular zur Massenentlassungsanzeige keine kündigungsrechtlichen und damit mitunter sehr kostenintensiven Folgen mehr nach sich ziehen würde. Arbeitgeber, bei denen ein Betriebsrat gebildet ist, werden allerdings weiterhin eine ordnungsgemäße Konsultation desselben nach § 17 Abs. 2 KSchG sicherstellen müssen, da sie anderenfalls die Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen riskieren. Bis auf Weiteres ist im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige aber nach wie vor besondere Akribie und auch Geduld gefragt, denn mit einer Entscheidung des EuGH in dieser Sache kann frühestens 2025 gerechnet werden.