14.04.2023 | Bau- und Immobilienrecht
Sachverhalt
Die Beklagte war Hauptauftragnehmerin bei einem Ausbau der Stadtbahnlinie. Mit weitergereichtem Leistungsverzeichnis beauftragte sie die Klägerin als Nachunternehmerin mit den Tiefbauarbeiten. Das Auftragsvolumen belief sich auf etwa netto 3 Mio. €.
Im Zuge der Bauausführung stritten sich die Parteien über die geschuldete Qualität des verbauten Betons an einem Straßenabschnitt. Die Auseinandersetzung hätte dabei mit geringem Aufwand (Kosten etwa 6.000 €) beseitigt werden können.
Die Beklagte forderte die Klägerin unter Androhung der Kündigung zur Mängelbeseitigung wegen der unzureichenden Betonqualität auf. Die Klägerin kam diesem Aufforderungsverlangen jedoch nicht nach.
Daraufhin kündigte die Beklagte den Bauvertrag hinsichtlich aller zu diesem Zeitpunkt noch nicht erbrachten Arbeiten.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs
In seiner Entscheidung vom 19.01.2023 erklärte der Bundesgerichtshof zunächst, dass sämtliche Regelungen der VOB/B einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB unterliegen, wenn die VOB/B im Bauvertrag nicht uneingeschränkt übernommen bzw. modifiziert vereinbart wurde.
Im Gegensatz zu den üblichen Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die einer Inhaltskontrolle nach §§ 307 ff. BGB unterliegen, ist die VOB/B als ausgewogenes Gesamtregelwerk zu verstehen. Denn sie bildet nicht nur die Interessen einer Vertragspartei ab, sondern wird von einem paritätisch mit Auftraggeber- und Auftragnehmervertretern besetzten Gremium, dem Deutschen Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen, ausgearbeitet.
Wurde das Regelwerk der VOB/B daher – wie vorliegend – nicht uneingeschränkt übernommen bzw. inhaltlich modifiziert, ist für die Kündigungsregelung des § 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B i.V.m. § 8 Nr. 3 Abs. 1 VOB/B die Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB eröffnet.
Die Kündigungsregelung des § 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B muss sich dann an den Grundsätzen, nach denen ein Auftraggeber einen Werkvertrag aus wichtigem Grund kündigen kann, messen lassen.
Eine Kündigung aus wichtigem Grund setzt voraus, dass ein Auftragnehmer durch sein Verhalten die vertragliche Vertrauensgrundlage derart erschüttert, dass einem Auftraggeber die Fortsetzung des Vertrags unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und der beiderseitigen Interessensabwägung nicht mehr zugemutet werden kann.
Wirksam ist eine Kündigung daher nur, wenn auch das Gewicht bzw. die Schwere der mangelhaften Werkleistung hinreichend berücksichtigt wurden, mithin ein wesentlicher Mangel vorliegt.
§ 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B weicht von diesem maßgeblichen Grundgedanken ab. Denn ein Auftraggeber kann bereits bei geringfügigen Mängeln dem Wortlaut nach kündigen.
Auch eine Auslegung des § 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B dahingehend, dass eine Kündigung bei nur gewichtigen Mängeln erfolgen darf, ändert im Ergebnis nichts. Denn der unklare § 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B, der die Auslegung einer Kündigung bei nur gewichtigem Mangel überhaupt erst begründet, führt zur Anwendbarkeit des § 305c Abs. 2 BGB. § 305c Abs. 2 BGB aber schreibt vor, dass Auslegungszweifel zu Lasten des Klauselverwenders und damit der den Vertrag stellenden Beklagten gehen. Der unklare § 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B muss daher wegen § 305c Abs. 2 BGB so ausgelegt werden, dass eine Kündigung auch bei nur geringfügigen Mängeln möglich ist.
§ 4 Nr. 7 S. 3 VOB/B widerspricht daher dem gesetzlichen Leitbild und ist deshalb gem. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam.
Praxishinweis
Auch wenn sich die vorgestellte BGH-Entscheidung auf die VOB/B in der Fassung von 2002 bezieht, ist die Rechtsprechung auch bei der aktuell geltenden Regelung des § 4 Abs. 7 S. 3 VOB/B aufgrund des unveränderten Wortlauts gleichermaßen zu berücksichtigen.
Insofern empfiehlt es sich, vor dem Ausspruch einer Kündigung nach § 4 Abs. 7 S. 3 VOB/B i. V. m. § 8 Abs. 3 Nr. 1 VOB/B Rechtsrat einzuholen, um die Wesentlichkeit des Mangels vorab sicherzustellen und damit der Gefahr einer freien Kündigung zuvorzukommen.
Ob die Entscheidung des Bundesgerichtshofs auch den Deutschen Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen als Verordnungsgeber der VOB/B zu einer Erneuerung des Regelwerks bewegen wird, bleibt abzuwarten. Angesichts der immer noch ausstehenden Reaktion auf das gesetzliche Bauvertragsrecht ist eher nicht damit zu rechnen.