26.07.2022 | Kartellrecht, Commercial
Vertikal-GVO – kurze Einführung
Die Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Beschränkungen („Vertikal-GVO“) ist eine europäische Verordnung, welche Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die auf verschiedenen Ebenen der Produktions- oder Vertriebskette tätig sind, von dem Kartellverbot (Art. 101 Absatz 1 AEUV) ausnimmt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die Vertikal-GVO regelt somit einen Safe Harbour für vertikale Vereinbarungen.
Ergänzt werden die Regelungen der Vertikal-GVO durch die Leitlinien der Europäischen Kommission für vertikale Vereinbarungen („Vertikalleitlinien“). Die Vertikalleitlinien sollen Unternehmen als Orientierungshilfe für die Selbstprüfung von vertikalen Vereinbarungen dienen und die Durchsetzung des Kartellverbots erleichtern.
Typische kartellrechtlich relevante Regelungen in vertikalen Verträgen sind beispielsweise Wettbewerbsverbote, Mindestabnahmepflichten, Preisvorgaben, Kunden- und Gebietsbeschränkungen sowie Beschränkungen im Hinblick auf den Online-Vertrieb.
Die neue Vertikal-GVO – was hat sich verändert
Mit den neuen Regelwerken (Vertikal-GVO und Vertikalleitlinien) reagierte die Europäische Kommission auf die starken Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich E-Commerce. Die Regelwerke sollen Unternehmen einfachere, klarere und aktuelle Vorschriften und Leitlinien an die Hand geben, um ihre Vertriebsbeziehungen selbst kartellrechtlich richtig beurteilen zu können.
1. Informationsaustausch im zweigleisigen Vertrieb nur noch eingeschränkt zulässig
Zwar findet die Vertikal-GVO weiterhin grundsätzlich Anwendung, wenn die Vertragsparteien Wettbewerber nur auf der Vertriebsebene sind. Verkauft ein Hersteller also seine Produkte nicht nur indirekt über Händler, sondern auch selbst direkt an Endkunden (sog. zweigleisiger oder dualer Vertrieb), profitiert der Händlervertrag von dem Safe Harbour der Vertikal-GVO, wenn der Händler nicht zugleich Konkurrenzprodukte zu den Vertragsprodukten herstellt.
Neu ist aber, dass der Informationsaustausch zwischen Hersteller und Händler im zweigleisigen Vertrieb nur noch eingeschränkt unter der Vertikal-GVO zulässig ist. Weisen die ausgetauschten Informationen keinen unmittelbaren Bezug zur Umsetzung der vertikalen Vereinbarung auf, fällt der Informationsaustausch nicht unter die Vertikal-GVO und ist daher an Art. 101 AEUV zu messen. Gleiches gilt für Informationen, die nicht zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich sind. Welche Informationen einen direkten Bezug zur Umsetzung der vertikalen Vereinbarung haben können, zählen die Vertikalleitlinien beispielhaft auf (Rn. 99).
Oftmals finden sich in Händlerverträgen weitgehende Auskunftspflichten des Händlers sowie Audit- und Einsichtsrechte des Herstellers. Ob derartige Regelungen den neuen Regelwerken entsprechen, gilt es anhand der konkreten Vertragsbeziehung zu überprüfen.
2. Einsatz von bis zu fünf Abnehmern in einem Exklusivgebiet möglich
Nach den alten Regelungen konnte einem Händler der aktive Vertrieb in Gebiete oder an Kunden(gruppen) nur dann zulässigerweise verboten werden, wenn der Unternehmer (Anbieter) diese Gebiete oder Kunden(gruppen) entweder einem anderen Händler exklusiv zugewiesen oder sich selbst vorbehalten hat.
Die neue Vertikal-GVO erlaubt hingegen die „exklusive“ Zuweisung von Gebieten oder Kunden(gruppen) an bis zu fünf Händler. Dadurch können nun mehrere Händler vor aktiven Verkäufen anderer Händler geschützt werden.
Was unverändert bliebt, ist aber das Verbot, Händler im passiven Vertrieb einzuschränken. Was passiver Vertrieb ist, definiert die Vertikal-GVO nun auch: ein auf unaufgeforderte Anfragen einzelner Kunden zurückgehender Verkauf.
Im Zusammenhang mit Gebietsbeschränkungen hat die Europäische Kommission in den Vertikalleitlinien explizit darauf hingewiesen, dass solche Beschränkungen auch in indirekten Maßnahmen vorliegen können. Besonders hervorgehoben sei hier die durchaus noch in einigen Händlerverträgen zu findende Verpflichtung des Händlers, für Verkäufe in andere Gebiete als dem ihm zugewiesenen Territorium die Zustimmung des Unternehmers einzuholen.
Findet sich in Ihren Händlerverträgen ein derartiger Zustimmungsvorbehalt, sollten Sie auf jeden Fall tätig werden.
3. „Durchreichen“ von Gebiets- und Kundenbeschränkungen möglich
Unter den bisherigen Regelungen konnten Unternehmer zwar ihren Händlern – unter bestimmten Voraussetzungen – den aktiven Vertrieb in Exklusivgebiete verbieten. Unterhändlern, also Abnehmern der Händler, konnte der Vertrieb in die Exklusivgebiete nicht untersagt werden.
Hier schaffen die neuen Regelungen Abhilfe: Nun kann ein Unternehmer nicht nur seinem direkten Abnehmer Gebietsbeschränkungen auferlegen, sondern von seinem Abnehmer verlangen, dass dieser die Gebietsbeschränkungen seinen eigenen direkten Abnehmern weitergibt.
Wenn Sie die Exklusivität Ihrer Händler besser absichern möchten, ist es sinnvoll, diese Durchreichverpflichtung in Ihre Händlerverträge aufzunehmen.
4. Wettbewerbsverbote über die Dauer von fünf Jahren möglich
Die neuen Regelwerke bringen auch für Wettbewerbsverbote Erleichterungen. Unter der alten Vertikal-GVO mussten Wettbewerbsverbote zwingend auf die Dauer von fünf Jahren beschränkt sein. Nach Ablauf der Fünfjahresfrist musste das Wettbewerbsverbot zwingend neu verhandelt und vereinbart werden. Nun dürfen sich Wettbewerbsverbote stillschweigend über einen Zeitraum von fünf Jahren hinaus verlängern, sofern der Händler den Händlervertrag mit einer angemessenen Kündigungsfrist beenden oder zu angemessenen Kosten wirksam neu aushandeln kann. Wichtig ist, dass ein Händler seinen Anbieter nach fünf Jahren effektiv wechseln kann (Rn. 248 der Vertikalleitlinien).
Sofern Ihre Händlerverträge Wettbewerbsverbote mit der starren Fünfjahresfrist enthalten oder – was häufig der Fall ist – die Laufzeit des Vertrags auf die Dauer von fünf Jahren beschränkt ist, macht es Sinn, die Händlerverträge in diesem Punkt anzupassen.
5. Beschränkung des Online-Vertriebs ist explizit Kernbeschränkung
In die neue Vertikal-GVO hat auch explizit Eingang gefunden, was seit langem Behördenpraxis bzw. Rechtsprechung ist: Eine Beschränkung der wirksamen Nutzung des Internets durch den Händler für den Verkauf der Vertragswaren oder -dienstleistungen an seine Kunden ist nach der Vertikal-GVO nicht vom Kartellverbot freigestellt. Eine unter der Vertikal-GVO unzulässige Beschränkung der Nutzung des Internets liegt beispielsweise in folgenden Fällen vor:
- Die Verpflichtung des Händlers, die Vertragswaren nur in einem physischen Raum oder in physischer Anwesenheit von Fachpersonal zu verkaufen.
- Die Verpflichtung des Händlers, die Online-Transaktionen von Kunden zu beenden, sobald deren Kreditkartendaten eine Adresse ergeben, die nicht im Gebiet des Händlers liegt.
- Die Verpflichtung des Händlers zu verhindern, dass Kunden aus einem anderen Gebiet seine Website einsehen können, oder die Verpflichtung, auf seiner Website eine Umleitung zum Online-Shop des Herstellers oder eines anderen Händlers einzurichten.
Hingegen dürfen dem Händler Anforderungen in Bezug auf die Art und Weise des Online-Verkaufs der Vertragswaren vorgeschrieben werden (z.B. Anforderungen hinsichtlich der Darstellung der Waren).
Wir sehen oft Händlerverträge, welche die Nutzung des Internets für den Vertrieb der Produkte beschränken. Die Zulässigkeit der konkreten vertraglichen Regelungen sollte anhand der neuen Regelwerke überprüft werden.
6. Beschränkung der Nutzung von Online-Marktplätzen und Preisvergleichsinstrumenten kann zulässig sein
Die neuen Regelwerke bringen auch Klarheit im Hinblick darauf, ob und in welchem Maße Beschränkungen der Nutzung von Online-Marktplätzen und Preisvergleichsinstrumenten unter der Vertikal-GVO zulässig sind.
Von der Vertikal-GVO grundsätzlich freigestellt ist das Verbot an Händler, für den Verkauf der Produkte Online-Marktplätze einzusetzen.
Die Nutzung von Preisvergleichsmaschinen im Rahmen des Vertriebs kann einem Händler hingegen nicht generell verboten werden. An die von einem Händler genutzten Preisvergleichsinstrumente dürfen aber Qualitätsanforderungen gestellt werden (Anforderungen an die Präsentation der Produkte, an die Funktionalitäten des Portals, z.B. Informationen zum Produkt mit Kundenrezensionen oder Fachbewertungen, Informationen zur Preishistorie, Preiswarnungen, Funktionalitäten wie Newsletter; Möglichkeit für Kunden, produktbezogene Fragen zu stellen oder eine Liste mit Favoriten zu erstellen).
Auch pauschale Verbote im Hinblick auf die Nutzung von Preisvergleichsdiensten begegnen uns häufig in Händlerverträgen. Insofern ist eine Anpassung der Verträge geboten.
Müssen bestehende Verträge unmittelbar mit Inkrafttreten an die neuen Regelwerke angepasst sein?
Nein. Für bestehende Verträge sieht die Vertikal-GVO eine Übergangsfrist von einem Jahr vor. Bis Ende Mai 2023 bleibt also Zeit, bestehende Verträge mit den neuen Regelwerken in Einklang zu bringen.