23.05.2022 | Commercial
1. Urteil des BGH vom 12.01.2022
Mit Urteil vom 12.01.2022 (Az.: XII ZR 8/21) hatte der BGH darüber zu entscheiden, ob und in welchem Umfang im Falle einer staatlichen Betriebsschließung der Mieter von Gewerbemieträumen verpflichtet ist, für die Zeit der Schließungsanordnung den Mietzins zu bezahlen. Der BGH urteilte, dass dem Vermieter durch die staatliche Betriebsschließungsanordnung die Überlassung der Mietsache als solche nicht untersagt wird, so dass kein Mangel der Mietsache im Sinne von § 536 Abs. 1 S. 1 BGB vorliegt. Da somit eine spezielle Regelung nicht eingreift, sah der BGH den Anwendungsbereich der Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB eröffnet.
Im Rahmen der konkreten Prüfung, ob die Mietzinszahlungspflicht des Mieters wegen der Betriebsschließungsanordnung angepasst werden muss, hat das Gericht wichtige Grundsätze für die Anwendung des § 313 Abs. 1 BGB in Pandemiesituationen und insbesondere im Falle hoheitlicher Schließungsanordnungen herausgearbeitet. Diese lassen sich auch für weitere hoheitliche Eingriffe in Krisensituationen und andere Dauerschuldverhältnisse verallgemeinern.
2. Änderung der Geschäftsgrundlage durch pandemiebedingte staatliche Einschränkungen
Gemäß § 313 Abs. 1 BGB kann eine Anpassung des Vertrags verlangt werden, wenn sich die Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind (Geschäftsgrundlage), nach Vertragsabschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten. Geschäftsgrundlage in diesem Sinne sind die bei Vertragsabschluss bestehenden gemeinsamen Vorstellungen der Parteien oder dem Geschäftsgegner erkennbaren Vorstellungen einer Vertragspartei über gewisse bestehende oder künftig eintretende äußere Umstände.
Nach Auffassung des BGH hatten die Parteien vor Beginn der Corona-Pandemie bei Abschluss von Dauerverträgen regelmäßig nicht die Vorstellung, dass es während der vereinbarten Vertragslaufzeit zu einer Pandemie und damit verbundenen erheblichen hoheitlichen Eingriffen in den Geschäftsbetrieb einer Vertragspartei kommt und damit die beabsichtigte Nutzung des Vertragsgegenstands eingeschränkt wird. Mit anderen Worten: Hätten die Parteien das Risiko der Corona-Pandemie vorausgesehen, hätten sie eine entsprechende vertragliche Risikoverteilung festgelegt.
Für Vertragsverhältnisse, die nach Beginn der Pandemie geschlossen wurden, gelten diese Grundsätze nicht. Spätestens nach der sogenannten zweiten Corona-Welle musste allen Beteiligten klar sein, dass staatliche Eingriffsmaßnahmen zur Bewältigung der Pandemie möglicherweise über einen längeren Zeitraum fortwährend eingeleitet werden könnten. In Anbetracht dieser Erkenntnis kann bei Verträgen, die nach Beginn der Pandemie geschlossen wurden, nicht mehr ohne Weiteres von einer schwerwiegenden Veränderung der Geschäftsgrundlage gesprochen werden, so dass eine Vertragsanpassung ohne entsprechende vertragliche Regelung gemäß § 313 Abs. 1 BGB in der Regel ausscheidet.
3. Pandemiebedingte Nachteile als allgemeines Lebensrisiko
Neben der Veränderung der Geschäftsgrundlage ist es entscheidend, ob das Risiko der geänderten äußeren Umstände in den Risikobereich einer der Parteien fällt. Eine solche vertragliche Risikoverteilung schließt für die das Risiko tragende Vertragspartei regelmäßig die Möglichkeit aus, sich bei Verwirklichung des Risikos auf eine Störung der Geschäftsgrundlage zu berufen.
Der BGH hat diesbezüglich für das gewerbliche Mietrecht entschieden, dass die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung weder an spezifische Eigenschaften des vom Mieter geführten Gewerbebetriebs noch an solche des Mietobjekts anknüpfen. Das bedeutet, wirtschaftliche Einbußen aufgrund hoheitlicher Betriebsschließung übersteigen das gewöhnliche Verwendungsrisiko des Mieters, sind andererseits aber auch nicht der Mietsache immanentes Risiko des Vermieters. Durch die Corona-Pandemie habe sich vielmehr ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht, das von der vertraglichen Risikoverteilung ohne eine entsprechende vertragliche Regelung nicht erfasst werde.
Insoweit ist es richtig, wenn der BGH von einer Systemkrise mit weitreichenden Folgen spricht, weshalb das damit verbundene Risiko regelmäßig keiner Vertragspartei allein zugewiesen werden kann. Dieser Grundsatz hat seine Berechtigung für sämtliche vertraglichen Dauerschuldverhältnisse, da die jeweiligen Betriebsschließungsanordnungen allein epidemiologischen Gesichtspunkten dienten. Völlig unabhängig vom Vertragstyp ist die Beeinträchtigung der Verwendung des Vertragsgegenstands vom Leistungsempfänger nämlich in keiner Weise beeinflussbar, weshalb das Verwendungsrisiko auch nicht in seine alleinige Risikosphäre fallen kann.
4. Staatliche Unterstützungsleistungen als Kompensation
Dass das pandemiebedingte Risiko der fehlenden Verwendungsmöglichkeit des Vertragsgegenstands grundsätzlich nicht in die Risikosphäre einer Vertragspartei fällt, bedeutet allerdings nicht, dass die pandemiebedingten Lasten von den Vertragsparteien grundsätzlich je zur Hälfte zu tragen sind. Vielmehr ist stets eine Abwägung im Einzelfall erforderlich, wobei die jeweiligen Nachteile und Vorteile, die der durch die Geschäftsschließung betroffenen Partei während der Dauer der Schließungsanordnung entstanden bzw. zugeflossen sind, entscheidend für das Abwägungsergebnis sind.
Der BGH hat diesbezüglich nun entschieden, dass bei der gebotenen Abwägung grundsätzlich auch die finanziellen Vorteile zu berücksichtigen sind, die die von der Schließungsanordnung betroffene Partei aus staatlichen Leistungen zum Ausgleich der pandemiebedingten Nachteile erhalten hat. Schließlich dürfe eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage nicht zu einer Überkompensation der entstandenen Verluste führen. Aus diesem Grund könnten nach Auffassung des Gerichts auch Leistungen einer einstandspflichtigen Betriebsversicherung des Mieters zu berücksichtigen sein. Nicht in die Abwägung einzustellen seien allerdings bloße Überbrückungsdarlehen, da es insoweit an einer endgültigen Kompensation der Umsatzeinbußen wegen Geschäftsschließung mangele.
Fazit
Der BGH hat nun erfreulicherweise klargestellt, dass bei Dauerschuldverhältnissen, die vor Pandemiebeginn geschlossen wurden, im Falle hoheitlicher Betriebsschließungsanordnungen eine Vertragsanpassung möglich ist. Zudem falle das Verwendungsrisiko des Vertragsgegenstands in diesem Fall nicht allein in die Risikosphäre des Leistungsempfängers. Für nach Beginn der Pandemie geschlossene Verträge gilt dies nicht ohne Weiteres.
Für die Frage, in welchem Umfang das Verwendungsrisiko von den Vertragsparteien zu tragen ist, bringt aber auch diese neuerliche Entscheidung nicht die erhoffte Rechtssicherheit. Der BGH erteilt einer grundsätzlich hälftigen Risikoverteilung eine klare Absage und betont weiterhin die Abwägung im Einzelfall. Die Berücksichtigung staatlicher Leistungen als kompensatorische Vorteile im Rahmen dieser Abwägung mag zwar unter Gerechtigkeitsaspekten nachvollziehbar sein, lässt aber weiteren Streit hinsichtlich der Frage erwarten, in welchem Maß sich solche Leistungen auf die Risikoverteilung auswirken.
Problematisch ist ferner, dass Unternehmen, die staatliche Unterstützungsleistungen erhalten haben, keinen einklagbaren Anspruch hierauf haben. Deshalb ist momentan vielfach ungewiss, ob die erhaltenen Hilfen zumindest teilweise wieder zurück zu zahlen sind. Dann sind die Parteien mit dem Folgeproblem belastet, wie eine solche Rückforderung im Rahmen bereits angepasster Dauerschuldverhältnisse zu berücksichtigen ist.
Bei der Vertragsgestaltung zukünftiger Dauerschuldverhältnisse sind daher im Rahmen einer Pandemie-Klausel unbedingt folgende Punkte zu regeln:
- Klarstellung, dass Einschränkungen des Geschäftsbetriebs der Parteien wegen hoheitlicher Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung auch weiterhin die Möglichkeit zur Vertragsanpassung eröffnen;
- auf Rechtsfolgenseite Regelungen zur Risikoallokation im Falle der Vertragsanpassung; insbesondere Regelungen zu Beschaffungs- und Verwendungsrisiko und der Anrechnung staatlicher Unterstützungsleistungen als Kompensation.