Das Bundeskartellamt hat Leitlinien für das Genossenschaftswesen veröffentlicht, die wichtige Hinweise zur kartellrechtlichen Beurteilung der Tätigkeiten von Genossenschaften enthalten, aber auch für Einkaufs- und Vertriebsgemeinschaften sehr relevant sind.
Das Bundeskartellamt hat im November 2021 erstmals spezielle Leitlinien für das Genossenschaftswesen veröffentlicht, die Genossenschaften eine Orientierungshilfe zur besseren Einschätzung der kartellrechtlichen Zulässigkeit ihrer Tätigkeiten geben sollen. Die neuen Genossenschaftsleitlinien gelten entsprechend aber auch für Einkaufs- und Vertriebsgemeinschaften, zumal sich in derartigen Verbundgruppen sehr ähnliche kartellrechtliche Fragestellungen ergeben, bspw. in Bezug auf digitale Handelsplattformen oder das Thema Benchmarking. Insofern handelt es sich bei den neuen Genossenschaftsleitlinien um Pflichtlektüre für Genossenschaften, Einkaufs- und Vertriebskooperationen.
In den Leitlinien werden - unter Bezugnahme auf die Entscheidungspraxis des Bundeskartellamts und der EU-Kommission - die Reichweite und die Grenzen des Kartellverbots erläutert und anhand von Praxisbeispielen mögliche Handlungsspielräume dargestellt. Mit anderen Worten: Der (berüchtigte) kartellrechtliche Graubereich wird (zumindest etwas) beleuchtet.
Hierzu beinhalten die Leitlinien Aussagen bspw. zu Andienungspflichten, Ausschließlichkeitsbindungen und Kündigungsfristen, in Bezug auf neue digitale Vertriebs- und Kooperationsformen, sowie im Hinblick auf die Zulässigkeit eines Informationsaustauschs zwischen Genossenschaften bspw. im Rahmen von Marktinformationssystemen.
Hierbei differenziert das Bundeskartellamt zwischen dem Verhältnis einzelner Genossenschaften zu ihren Mitgliedern sowie dem Verhältnis der Genossenschaften untereinander. In diesem Zusammenhang wird auch näher auf das Verhältnis der Hauptgenossenschaften untereinander sowie zu den an ihnen beteiligten Primärgenossenschaften im sog. Stufenverband eingegangen.
Keine kartellrechtliche Privilegierung von Genossenschaften
Das Bundeskartellamt betont in den Leitlinien, dass das Kartellverbot in Bezug auf Genossenschaften in der Regel Anwendung findet, zumal es sich bei den Genossenschaften und ihren Mitgliedern in der Regel um eigenständige bzw. unterschiedliche Unternehmen im kartellrechtlichen Sinne handelt. Eine etwaige kartellrechtliche Privilegierung von Genossenschaften existiert hingegen nicht, d.h. das Genossenschaften nicht allein wegen ihrer Rechtsform prinzipiell vom Kartellverbot ausgenommen sind. Dies wird in der Praxis bereits dadurch deutlich, dass in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche Genossenschaften von Kartellverfahren des Bundeskartellamts betroffen waren.
Fazit und Handlungsempfehlung
Die Leitlinien sind gut geeignet, Genossenschaften und anderen Verbundgruppen, wie Einkaufs- und Vertriebskooperationen, eine kartellrechtliche (Erst-)Einschätzung ihrer Verhaltensweisen zu ermöglichen. Sie können und sollen eine sorgfältige kartellrechtliche Selbsteinschätzung der Zulässigkeit bestimmter Tätigkeiten und Maßnahmen indes nicht ersetzen.
Vielmehr muss jeweils unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls geprüft werden, ob eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt und - sofern dies der Fall sein sollte - die Tätigkeiten oder Verhaltensweisen ggf. vom Kartellverbot ausgenommen sind oder freigestellt werden können:
Kartellrechtsausnahmen können auf einer gesetzlichen Sonderregel beruhen, bspw. der Bereichsausnahme für die Landwirtschaft in § 28 GWB.
Freistellungen sind zum einen auf der Grundlage einer der Gruppenfreistellungsverordnungen wie insbesondere der sog. Vertikal-GVO möglich („Gruppenfreistellung“). Zum anderen kommen sog. Einzelfreistellungen nach § 2 GWB bzw. Art. 101 Abs. 3 AEUV in Betracht.
Auf der Grundlage von § 3 GWB ist eine Freistellung von Kooperationen kleiner und mittlerer Unternehmen („Mittelstandskartelle“) möglich.
In Zweifelsfällen ist zu empfehlen, den Sachverhalt mit dem Bundeskartellamt zu erörtern bzw. von diesem eine Art „Freigabe“ einzuholen:
Diesbezüglich kommt zum einen in Betracht, eine förmliche Entscheidung der Behörde zu beantragen, auf die unter bestimmten Voraussetzungen sogar ein Anspruch besteht („Comfort Letter“).
Zum anderen besteht die Möglichkeit einer informellen Abklärung mit dem Bundeskartellamt („Vorsitzendenschreiben“).
Im Zuge der 10. GWB-Novelle wurde ein Anspruch auf eine kartellbehördliche Entscheidung über (horizontale) Kooperationen zwischen Wettbewerbern eingeführt, um mehr Rechtssicherheit zu ermöglichen.