19.02.2021 | Kartellrecht
Das Bundeskartellamt hat kürzlich Geldbußen in Höhe von insgesamt rund 6 Mio. Euro gegen zwei Hersteller von Straßenkanalguss und deren Verantwortliche wegen Preis- und Rabattabsprachen sowie einer Absprache zur Aufteilung zweier Großaufträge verhängt (vgl. Pressemitteilung vom 14.01.2021). Dies wäre eigentlich keiner besonderen Erwähnung wert, zumal es Kartelle mit weitaus höheren Bußgeldern oder einer deutlich größeren Gruppe Geschädigter gibt. Das interessante an dieser Nachricht ist vielmehr der amtsseitige Hinweis, dass die Verstöße mithilfe des digitalen Hinweisgebersystems des Bundeskartellamtes, mithin durch den Hinweis eines Whistleblowers aufgedeckt worden sind.
Es handelt sich hierbei (zwar) nicht um den ersten Fall, der mit Hilfe dieses Instruments eingeleitet worden ist. Die Meldung passt jedoch insofern ins Bild, als dass die Zahl der Kronzeugenanträge kartellbeteiligter Unternehmen, mittels derer in den letzten Jahren der größte Teil der Kartellverstöße aufgedeckt worden ist, seit einiger Zeit rückläufig ist. Infolge der erleichterten Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen kartellgeschädigter Abnehmer sehen (kartellbeteiligte) Unternehmen zunehmend von der Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung ab. Kronzeugen können zwar im besten Fall ein kartellbehördliches Bußgeld vollständig vermeiden, sind aber nicht vor der Inanspruchnahme durch geschädigte Dritte geschützt.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, versuchen sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundeskartellamt, bestehende Instrumente der Kartellverfolgung zu stärken und neue Ermittlungsansätze auszuprobieren.
Digitales Hinweisgebersystem für Whistleblower
Das Bundeskartellamt hatte bereits vor längerer Zeit ein digitales Hinweisgebersystem für Whistleblower eingeführt (über das auch der bereits erwähnte Kartellverstoß aufgedeckt worden ist). Die Möglichkeiten dieses Hinweisgebersystems sollen nunmehr ausweislich einer kürzlich veröffentlichten Pressemitteilung des Amtes „ausgebaut“ werden. Es ist bislang allerdings noch offen, wie dieser Ausbau konkret aussehen soll.
Screening von Märkten mittels Algorithmen
Darüber hinaus erprobt das Bundeskartellamt derzeit neue Ermittlungsansätze wie etwa das Screening von Märkten. In diesem Zusammenhang ist künftig mit dem Einsatz von Algorithmen zu rechnen, welche die Preisentwicklung und weitere kartellrechtlich relevante Faktoren, wie etwa die Marktkonzentration, automatisiert überwachen und Alarm schlagen, wenn eine ungewöhnliche Abweichung auftritt.
Infolgedessen kommt die Einleitung einer sog. Sektorenuntersuchung (§ 32e GWB) in Betracht, in deren Rahmen das Bundeskartellamt einen bestimmten Wirtschaftszweig gezielt unter die Lupe nimmt. Hierbei kann das Kartellamt von den in diesem Sektor tätigen Unternehmen Auskünfte und die Herausgabe von Unterlagen verlangen (vgl. §§ 32e Abs. 2, 59 GWB).
Kronzeugenprogramm
Die Reaktion des Gesetzgebers auf die rückläufige Zahl von Kronzeugenanträgen besteht in der gesetzlichen Verankerung und Konkretisierung des Kronzeugenprogramms (§§ 81h bis 81n GWB) im Rahmen der am 19.01.2021 in Kraft getretenen 10. GWB-Novelle.
Auf der Grundlage des Kronzeugenprogramms kann ein (eigentlich zu verhängendes) Kartellbußgeld vollständig erlassen oder zumindest erheblich reduziert werden, wenn ein kartellbeteiligtes Unternehmen als Kronzeuge freiwillig bei der Aufdeckung eines Kartellrechtsverstoßes mit der Kartellbehörde kooperiert hat.
Dies war bisher lediglich auf der Grundlage einer Verwaltungsrichtlinie des Bundeskartellamtes, der sog. Bonusregelung möglich (vgl. Bundeskartellamt, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen vom 7. März 2006). Durch die Kodifizierung des Kronzeugenprogramms soll mehr Rechtssicherheit geschaffen und, damit einhergehend, das Vertrauen in die Inanspruchnahme des Kronzeugenprogramms (wieder) gestärkt werden.
Fazit
In Ansehung der Stärkung bzw. Einführung alternativer Ermittlungsansätze sollten sich kartellbeteiligte Unternehmen nicht in der trügerischen Sicherheit wiegen, dass aus der derzeit rückläufigen Zahl von Kronzeugenanträgen mittel- bis langfristig ein Nachlassen der behördlichen Kartellverfolgung resultiert. Vielmehr ist auch künftig mit der Aufdeckung einer eigenen Kartellbeteiligung zu rechnen.
Vor diesem Hintergrund sollte die Möglichkeit eines Kronzeugenantrags weiterhin in Betracht gezogen werden. Die Abwägung über die Einreichung eines Kronzeugenantrags muss dabei stets anhand des Einzelfalls unter Berücksichtigung sämtlicher Vor- und Nachteile erfolgen; eine pauschale Betrachtung ist hier nicht empfehlenswert.
Zu den Nachteilen zählt in erster Linie unzweifelhaft das Schadenersatzrisiko, zumal die Schadenersatzforderungen (je nach Sachlage) in Summe höher als das kartellbehördliche Bußgeld ausfallen können. Daneben sind langjährige gerichtliche Verfahren, ein Reputationsschaden und die Belastung bestehender Geschäftsbeziehungen zu berücksichtigen.
Der wesentliche Vorteil eines Kronzeugenantrags besteht darin, dass das behördliche Kartellbußgeld, welches bis zu 10% des weltweiten Konzernumsatzes betragen darf, im besten Fall vollständig vermieden bzw. zumindest erheblich reduziert werden kann. In der Gesamtbetrachtung entsteht dem Kronzeugen somit ein deutlich geringerer finanzieller Schaden, als wenn er das Kartellbußgeld und Kartellschadenersatz leisten muss. Außerdem behält der Kronzeuge hinsichtlich der Verfahrenseinleitung das Heft des Handelns in der Hand.
Im Rahmen der Abwägung sind hinsichtlich des Schadenersatzrisikos verschiedene Faktoren einzubeziehen, etwa welcher sachliche und räumliche Markt von dem Kartell betroffen ist, der Tatzeitraum und der betroffene Kundenkreis. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nicht aus jedem Kartellverstoß zwangsläufig ein (nachweisbarer) Schaden resultiert. Dies kommt insbesondere im Falle eines Informationsaustauschs „unterhalb“ von Hardcore-Verstößen (hierzu zählen bspw. Preisabsprachen, Gebiets- oder Kundenaufteilungen) in Betracht.
Dies vorausgeschickt, finden Sie nachfolgend eine Zusammenfassung der wesentlichen Rahmenbedingungen des mit der 10. GWB-Novelle kodifizierten Kronzeugenprogramms:
2. Allgemeine Voraussetzungen für die Behandlung als Kronzeuge
3. Vollständiger Erlass der Geldbuße nur auf Rang 1 möglich
4. Reduzierung der Geldbuße setzt „Mehrwert“ voraus
7. Einreichung auf Deutsch und Englisch sowie in anderen EU-Amtssprachen möglich
Das Kronzeugenprogramm gilt (wie auch bisher) nur für horizontale Wettbewerbsbeschränkungen (vgl. § 81h GWB). Allerdings kann das Bundeskartellamt ausweislich der Gesetzesbegründung im Rahmen der Bußgeldzumessung sowie in Ausnahmefällen im Rahmen des Ermessens auch in anderen Fallkonstellationen, etwa bei vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen, die freiwillige Zusammenarbeit eines Unternehmens mit dem Bundeskartellamt entsprechend berücksichtigen.
Zum Kreis derjenigen, die das Kronzeugenprogramm in Anspruch nehmen können, zählen neben Unternehmen und Unternehmensvereinigungen auch natürliche Personen (§ 81h Abs. 1 GWB). Ein Antrag auf Kronzeugenbehandlung, der für ein Unternehmen abgegeben wird, gilt, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes erklärt wird, für alle juristischen Personen oder Personenvereinigungen, die im Zeitpunkt der Antragstellung das Unternehmen als wirtschaftliche Einheit bilden. Er gilt auch für deren derzeitige sowie frühere Mitglieder von Aufsichts- und Leitungsorganen und Mitarbeiter, d.h. Unternehmensangehörige sind grundsätzlich vom Schutzbereich eines Kronzeugenantrags erfasst (§81i Abs. 2 GWB).
Das Kronzeugenprogramm gilt indes ausschließlich für kartellbehördliche, nicht jedoch für gerichtliche Verfahren. Es bietet auch (weiterhin) keinen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung, falls es sich bei dem wettbewerbsbeschränkenden Verhalten um eine Absprache in Bezug auf Ausschreibungen („Submissionsabsprache“) i. S. d. § 298 StGB handelt.
Allgemeine Voraussetzungen für die Behandlung als Kronzeuge
Um mit Hilfe des Kronzeugenprogramms einen Erlass oder zumindest eine Reduzierung des Kartellbußgeldes erreichen zu können, muss ein Antragsteller mindestens die nachfolgend genannten Voraussetzungen erfüllen (vgl. § 81j Abs. 1 GWB):
- Offenlegung der Kenntnisse von dem Kartell einschließlich der eigenen Beteiligung hieran;
- Beendigung eigenen Kartellbeteiligung (sofern das BKartA dem Unternehmen nicht zum Schutz der Untersuchung auferlegt, weiter an dem Kartell mitzuwirken);
- Umfassende Kooperation mit dem BKartA ab dem Zeitpunkt der Antragstellung (u.a. Vorlage sämtlicher Informationen und Beweismittel, Beantwortung von Fragen, Verschwiegenheitspflicht);
- Keine Vernichtung, Verfälschung oder Unterdrückung von Beweismitteln.
In dem Zeitraum vor Antragstellung, in dem ein Unternehmen die Stellung eines Kronzeugenantrags erwogen hat, dürfen (ebenfalls) keine Informationen oder Beweise vernichtet, verfälscht und/oder unterdrückt und weder die Absicht der Stellung des Kronzeugenantrags, noch dessen vorgesehener Inhalt offengelegt worden sein.
Vollständiger Erlass der Geldbuße nur auf Rang 1 möglich
Erfüllt ein Antragsteller die vorstehend genannten Voraussetzungen, wird die Kartellbehörde von der Verhängung eines Bußgeldes vollständig absehen, wenn das Unternehmen als erstes Beweismittel vorlegt, die die Kartellbehörde (zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Antrag erhält) erstmals in die Lage versetzen, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken (vgl. § 81k Abs. 1 GWB).
Ein Totalerlass kommt auch dann in Betracht, wenn die Kartellbehörde bereits in der Lage ist, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken, sofern (i) der Antragsteller in diesem Fall als erster Beweismittel vorlegt, die erstmals den Nachweis der Tat ermöglichen und (ii) kein Kartellbeteiligter bereits die Voraussetzungen für einen Totalerlass nach § 81k Abs. 1 GWB erfüllt hat (vgl. § 81k Abs. 2 GWB).
Während ausweislich Rn. 3 und 4 der (alten) Bonusregelung ein Totalerlass des Bußgeldes nicht in Betracht kam, wenn der Antragsteller alleiniger Anführer des Kartells war oder andere zur Teilnahme an dem Kartell gezwungen hat, liegt künftig ein Ausschlussgrund nur noch bei Zwang vor (vgl. § 81k Abs. 3 GWB).
Reduzierung der Geldbuße setzt „Mehrwert“ voraus
Ein Unternehmen, dass mit seinem Kronzeugenantrag nicht Rang 1 belegt, kann eine erhebliche Reduzierung des Kartellbußgeldes erreichen, sofern (i) die allgemeinen Voraussetzungen (s.o.) erfüllt werden und (ii) das Unternehmen Beweismittel für das Kartell vorlegt, die im Hinblick auf den Nachweis der Tat gegenüber den Informationen und Beweismitteln, die der Kartellbehörde bereits vorliegen, einen erheblichen „Mehrwert“ aufweisen (vgl. § 81l Abs. 1 GWB). Ein solcher Mehrwert kann darin liegen, dass die Informationen und Beweismittel bestehende Zusammenhänge verdeutlichen oder den Nachweis bereits bekannter Tatsachen bestärken.
Im Gegensatz zur bisherigen Bonusregelung enthält das Kronzeugenprogramm keine prozentualen Angaben zum möglichen Umfang einer Reduzierung. Der Umfang der Ermäßigung richtet sich nach dem Nutzen der Beweismittel sowie nach dem Zeitpunkt der Anträge auf Kronzeugenbehandlung (§ 81l Abs. 2 GWB).
Erstmals gesetzlich verankert wird eine partielle Immunität für den Fall, dass ein Unternehmen als erster Antragsteller stichhaltige Beweise übermittelt, die die Kartellbehörde zur Feststellung zusätzlicher Tatsachen heranzieht und zur Festsetzung höherer Geldbußen gegenüber anderen Kartellbeteiligten verwendet; in diesem Fall werden diese Tatsachen bei der Festsetzung der Geldbuße gegen den Antragsteller, der diese Beweise vorgelegt oder im Falle eines Antrags zu seinen Gunsten umfassend daran mitgewirkt hat, nicht erschwerend bei der Bußgeldzumessung berücksichtigt (§ 81l Abs. 3 GWB).
Um sich einen Rang (in der Reihenfolge des Eingangs der Anträge auf Kronzeugenbehandlung) zu sichern, muss nicht zwingend unmittelbar ein vollständiger Kronzeugenantrag eingereicht werden. Vielmehr kann hierzu zunächst ein „Marker“ gesetzt, d.h. die Bereitschaft des Unternehmens zur Zusammenarbeit mit dem BKartA erklärt werden (§ 81m GWB). Das BKartA wird in diesem Fall eine Frist setzen, innerhalb derer durch das Unternehmen sodann ein vollständiger Kronzeugenantrag einzureichen ist. Für den Rang des vollständigen Antrags ist dann der Zeitpunkt des Markers maßgeblich, sofern der Antragsteller alle ihm obliegenden Pflichten fortwährend erfüllt.
Einreichung auf Deutsch und Englisch sowie in anderen EU-Amtssprachen möglich
Kronzeugenanträge können im Übrigen nicht nur in deutscher, sondern alternativ auch in englischer Sprache eingereicht werden. In Absprache mit der Kartellbehörde kann der Antrag sogar in einer anderen Sprache der EU gestellt werden. Die Kartellbehörde kann allerdings die unverzügliche Vorlage einer deutschen Übersetzung anfordern (vgl. §81i Abs. 3 GWB).