Arbeitszeiterfassung: Arbeitsgericht Emden überholt den Gesetzgeber

Der EuGH hat bereits im Mai 2019 die Einführung einer umfassenden Arbeitszeiterfassung gefordert. Das Arbeitsgericht Emden hat den Gesetzgeber nun überholt und die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert. Für Arbeitgeber ergibt sich Handlungsbedarf.

Arbeitszeiterfassung: Arbeitsgericht Emden überholt den Gesetzgeber
Arbeitszeiterfassung: Arbeitsgericht Emden überholt den Gesetzgeber

15.02.2021 | Arbeitsrecht

Nach der viel beachteten Entscheidung des EuGH vom 14.5.2019 – C-55/18 (Stichwort: Stechuhr für alle) müssen die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzuführen. Bislang hat der deutsche Gesetzgeber die aufgestellten Anforderungen zur Arbeitszeiterfassung umsetzt. Das Arbeitsgericht Emden ist dem Gesetzgeber nun zuvorgekommen und hat im Rahmen einer Vergütungsklage festgestellt, dass durch das Urteil des EuGH die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert werde.


Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden vom 24. September 2020 (2 Ca 144/20)

Sachverhalt

Die Parteien streiten über Vergütung von Überstunden. Die Klägerin arbeitete bei der Beklagten als kaufmännische Angestellte in Vertrauensarbeitszeit und erfasste ihre geleistete Arbeitszeit mittels einer von der Beklagten zur Verfügung gestellten Software. Nach ihrer Eigenkündigung verlangt die Klägerin die Vergütung von ca. 1.000 Überstunden. Die Beklagte ist der Ansicht, die Überstunden seien nicht von ihr veranlasst worden, insbesondere nicht geduldet, und daher von ihr nicht zu vergüten.

Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden

Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Die Prüfung, ob Überstunden zu vergüten sind, sei in zwei Stufen vorzunehmen. Es gelte eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Auf der ersten Stufe muss der Arbeitnehmer darlegen, wann er in welchem Umfang gearbeitet oder sich zur Arbeit bereitgehalten hat. Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob die Überstunden dem Arbeitgeber zurechenbar bzw. vom Arbeitgeber veranlasst sind. Dies setze eine Anordnung, Billigung, Duldung oder die Notwendigkeit zur Erledigung der geschuldeten Arbeit der Überstunden voraus.

Die Beklagte habe die Überstunden vorliegend geduldet, ihr Bestreiten der arbeitgeberseitigen Veranlassung sei nicht hinreichend. Die bisher vom BAG geforderte positive Kenntnis als Voraussetzung der Duldung sei infolge des Urteils des EuGH grds. nicht mehr erforderlich, wenn sich die Beklagte die Kenntnis der Arbeitszeiten durch Einsichtnahme in die Arbeitszeiterfassung, zu deren Überwachung/Kontrolle sie verpflichtet ist, verschaffen konnte. Letztlich genüge also die Möglichkeit zur Kenntnisnahme. Der Vortrag der Beklagten, sie habe aufgrund der Vertrauensarbeitszeit die Arbeitszeiterfassung nicht kontrolliert, genüge nicht, eine Duldung/Veranlassung zu widerlegen.
Eine Verpflichtung zu einer derartigen Erfassung der Arbeitszeit ergebe sich nach den Grundsätzen der zuvor zitierten Entscheidung des EuGH aus § 618 I BGB in europarechtskonformer Auslegung, hilfsweise als vertragliche Nebenpflicht aus § 241 II BGB.

Praxistipp: Einführung der Arbeitszeiterfassung 

Arbeitgeber sind daher gut beraten, sich mit den aus einer sich offenbar langsam festigenden Linie des ArbG Emden folgenden Fragestellungen auseinanderzusetzen, da davon auszugehen ist, dass sich Arbeitnehmer in etwaigen Prozessen um Überstundenvergütung vermehrt auf die Ansicht des ArbG Emden stützen werden. Dies gilt umso mehr, als die Implementierung einer allgemeinen Zeiterfassung zeitaufwändig ist, zumal in der Regel auch die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 und 6 BetrVG zu beachten sind.

Praxistipp: Risikominimierung bis zur Einführung

Aus Sicht der Praxis können Arbeitgeber ihr monetäres Risiko in der Zwischenzeit beispielsweise durch die Vereinbarung von Verfallfristen minimieren und sollten auch die in den einzelnen Arbeitsverträgen üblicherweise enthaltenen Klauseln zur Ausschlussfrist daraufhin überprüfen, ob hiervon auch die Vergütung von Überstunden erfasst wird.

Praxistipp: Kurzarbeit erfordert Arbeitszeiterfassung

Im Übrigen ist die Möglichkeit einer stichhaltigen Arbeitszeitargumentation auch im Hinblick auf das aktuell vielfach in Anspruch genommene Kurzarbeitergeld von großer Bedeutung. Schließlich muss der Arbeitgeber auch nach Beantragung und Auszahlung des Kurzarbeitergeldes die Voraussetzungen auf Verlangen der Agentur für Arbeit vollständig nachweisen. Die Arbeitsagenturen sind insoweit angehalten, für die Feststellung des Ausmaßes des Arbeitsausfalls entsprechende Unterlagen beim Arbeitgeber anzufordern.

Bei weiteren Fragen können Sie sich gerne an Andreas Kössel wenden: koessel@lutzabel.com