25.01.2021 | Kartellrecht
Die am 19.01.2021 in Kraft getretene 10. GWB-Novelle beinhaltet zahlreiche Neuerungen wie etwa die Verschärfung der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht über große digitale Plattformen, die signifikante Anhebung der fusionskontrollrechtlichen Anmeldeschwellen oder eine erleichterte Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen.
Daneben wurden zwei Instrumente geschaffen bzw. gesetzlich verankert, welche Unternehmen, die eine (horizontale) Kooperation mit Wettbewerbern (bspw. eine digitale B2B-Handelsplattform) beabsichtigen, im Hinblick auf deren kartellrechtliche Zulässigkeit mehr Rechtssicherheit ermöglichen:
- Anspruch auf förmliche Entscheidung ("Comfort Letter"): Unternehmen haben ab sofort unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf eine förmliche Entscheidung des Bundeskartellamtes über eine (horizontale) Kooperation mit Wettbewerbern.
- Möglichkeit der informellen Abklärung ("Vorsitzendenschreiben"): Daneben wurde das „Vorsitzendenschreiben“ gesetzlich verankert, mit dem der Vorsitzende einer Beschlussabteilung des Bundeskartellamtes informell mitteilen kann, dass die Behörde im Rahmen ihres Aufgreifermessens von der vertieften Prüfung eines Sachverhalts absieht.
Hintergrund: Abschaffung des Anmeldesystems und Umstellung auf Selbsteinschätzung
Vor einigen Jahren war mit der VO (EG) Nr. 1/2003 und der 7. GWB-Novelle das bis dahin bestehende Anmeldesystem für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen durch das System der Legalausnahme und Selbsteinschätzung (auch als „Selbstveranlagung“ bezeichnet) ersetzt worden. Eine Anmeldung und kartellbehördliche Freigabe von Kooperationen zwischen Wettbewerbern (wie im Rahmen der Fusionskontrolle) war seither nicht mehr möglich. Vielmehr müssen die beteiligten Unternehmen seit der Umstellung selbst prüfen bzw. anwaltlich prüfen lassen, ob eine beabsichtigte Kooperation mit Wettbewerbern kartellrechtskonform ist, und tragen das hiermit verbundene rechtliche Risiko.
Im Zuge des vorgenannten Systemwechsels wurde (lediglich) der § 32c GWB eingeführt, auf dessen Grundlage im Einzelfall die Möglichkeit besteht, eine förmliche kartellbehördliche Entscheidung zu erlangen: Hiernach kann eine Kartellbehörde, wenn nach den ihr vorliegenden Erkenntnissen die Voraussetzungen für ein Verbot nach §§ 1, 19 bis 21 oder § 29 GWB (oder Artikel 101 Abs. 1, 102 AEUV) nicht gegeben sind, entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden und sie vorbehaltlich neuer Erkenntnisse von ihren Befugnissen nach den §§ 32 und 32a GWB keinen Gebrauch machen wird ("Comfort Letter").
Hierbei handelt es sich (zwar) nicht um eine Freistellung, sondern die Entscheidung bewirkt (lediglich) eine Selbstbindung der Kartellbehörde (hinsichtlich des in Rede stehenden Sachverhalts nicht tätig zu werden), m.a.W. sie entfaltet keine rechtliche Außenwirkung ggü. anderen Kartellbehörden und/oder Gerichten. Neben der behördlichen Selbstbindung hat eine solche Entscheidung allerdings auch eine faktische Außenwirkung dahingehend, dass sich andere Kartellbehörden und Gerichte in der Regel der Begründung einer solchen Entscheidung anschließen. Im Vergleich zu einer unternehmensseitigen Selbsteinschätzung resultiert aus einem kartellbehördlichen Comfort Letter somit insgesamt deutlich mehr Rechtssicherheit.
Ob die Kartellbehörde eine solche Entscheidung erlässt, lag jedoch bisher ausschließlich in ihrem pflichtgemäßen Ermessen; ein unternehmensseitiger Anspruch bestand diesbezüglich bisher nicht.
Anspruch auf förmliche Entscheidung des Bundeskartellamtes ("Comfort Letter")
Im Zuge der 10. GWB-Novelle bleibt die vorstehend beschriebene Regelung (als neuer § 32 Abs. 1 GWB) erhalten. Neu eingeführt wurde ein Anspruch von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen gegenüber dem Bundeskartellamt auf eine solche förmliche Entscheidung ("Comfort Letter"), wenn die Unternehmen im Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit Wettbewerbern ein erhebliches rechtliches und wirtschaftliches Interesse an einer solchen Entscheidung haben (§ 32c Abs. 4 S. 1 GWB).
Der Anspruch soll freilich nur unter bestimmten Voraussetzungen und eingeschränkt gelten: Das für den Anspruch erforderliche erhebliche rechtliche und wirtschaftliche Interesse kann ausweislich der Gesetzesbegründung etwa bei der Realisierung von Netzwerkeffekten, der Zusammenführung und gemeinsamen Nutzung von Daten oder dem Aufbau von Plattformen im Bereich der Industrie 4.0, bei komplexen neuen Rechtsfragen und außergewöhnlich hohem Investitionsvolumen und -aufwand anzunehmen sein.
Vor diesem Hintergrund kann eine "durchschnittliche" Einkaufsgemeinschaft zwischen Wettbewerbern grundsätzlich kein Gegenstand einer solchen Entscheidung sein; diesbezüglich bleibt es grundsätzlich bei dem System der Selbstveranlagung.
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Anspruch ausweislich der Gesetzesbegründung auf horizontale Kooperationen begrenzt ist; die Prüfung bspw. eines selektiven Vertriebssystems eines einzelnen Unternehmens ist somit nicht von dem Anspruch umfasst.
Das Bundeskartellamt soll ausweislich § 32c Abs. 4 S. 1 GWB innerhalb von sechs Monaten über einen Antrag entscheiden.
Möglichkeit der informellen Abklärung ("Vorsitzendenschreiben")
Darüber hinaus wurde die bisher nur in der Anwendungspraxis des Bundeskartellamtes bestehende Möglichkeit des informellen "Vorsitzendenschreibens" gesetzlich verankert (§ 32c Abs. 2 GWB).
Hierbei kann die Kartellbehörde - unter Verzicht auf eine förmliche Entscheidung (im Sinne des § 32c Abs. 1 GWB; siehe oben) – informell mitteilen, dass sie im Rahmen ihres Aufgreifermessens von der vertieften Prüfung eines Sachverhalts absieht. Dadurch kann der im Falle einer förmlichen Entscheidung erhöhte Ermittlungs- und Begründungsbedarf vermieden und der Vorgang schneller zum Abschluss gebracht werden.
Das Bundeskartellamt hat von dieser Möglichkeit in jüngerer Zeit verstärkt Gebrauch gemacht und eine Vielzahl von Kooperationsvorhaben, insbesondere im Zusammenhang mit digitalen Handelsplattformen, mit einer informellen Einschätzung unterstützt. Die Vorhaben konnten dabei aus Sicht der Behörde entweder unmittelbar oder nach geringfügigen Anpassungen umgesetzt werden.
Einführung von Verwaltungsgrundsätzen über die Ermessensausübung des Amtes
Schließlich wurde eine Ermächtigungsgrundlage eingeführt, die dem Bundeskartellamt ermöglicht, die Festlegung allgemeiner Verwaltungsgrundsätze über die Ermessensausübung in Bezug auf § 32c Abs. 1 GWB (förmlicher Comfort Letter) und § 32c Abs. 2 GWB (informelles Vorsitzendenschreiben) festzulegen (§ 32c Abs. 3 GWB).
Es ist davon auszugehen, dass das Bundeskartellamt von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und entsprechende Verwaltungsgrundsätze festlegen wird. Auf dieser Grundlage wird es künftig möglich sein, vorab einzuschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer förmlichen oder informellen Entscheidung zu Gunsten der beteiligten Unternehmen sein wird.
Fazit
Das Bundeskartellamt war zwar bereits in der Vergangenheit (nach der Umstellung auf das Prinzip der Selbstveranlagung) zumindest in komplexen Fällen in der Regel bereit, den beteiligten Unternehmen eine informelle Abklärung zu ermöglichen. Durch die beabsichtigte Einführung eines Anspruchs auf eine förmliche Entscheidung wird jedoch eindeutig mehr Rechtssicherheit für Unternehmen geschaffen, weshalb dies sehr zu begrüßen ist.
Spannend bleibt diesbezüglich zum einen die Frage, wie das Bundeskartellamt in den (noch festzulegenden) Verwaltungsgrundsätzen das "erhebliche rechtliche und wirtschaftliche Interesse" definieren wird, welches Voraussetzung für den Anspruch sein soll. Zum anderen ist fraglich, welche Rechtsfolgen es haben wird, wenn ein Unternehmen – trotz Vorliegens der Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine förmliche Entscheidung – diesen nicht in Anspruch nimmt.
Wenngleich mit der Einführung des Anspruchs auf eine förmliche Entscheidung das bisherige System der Selbstveranlagung ein Stück weit durchbrochen wird, bleibt es auf Grund der tatbestandlichen Einschränkungen ansonsten bei diesem Prinzip. Dies gilt auch dann, wenn das Bundeskartellamt künftig einen Antrag auf förmliche Entscheidung ablehnen sollte. An kartellrechtliche Selbsteinschätzungen werden seitens der Rechtsprechung hohe Anforderungen gestellt, um die Voraussetzungen einer Legalausnahme zu erfüllen, weshalb (auch) diesbezüglich die Inanspruchnahme anwaltlicher Beratung dringend zu empfehlen ist.